Über den Zusammenhang von Inspiration, Freiheit und Widerstand
Was anderswo oft als Not erlebt wird, als Unfähigkeit, sich anzupassen, sich auf irgendeinen vordergründigen Lebenszweck auszurichten, erweist sich im Künstlerberuf als Tugend: Als unbändiger Freiheitsdrang ein Stimulans, als freier Standort eine Begabung, außerhalb drängender Vereinnahmungen Dinge unabhängig zu sehen und ausdrücken zu können. Für diese Arbeit ist es kein Übel mehr, ein Querkopf zu sein, sondern erst damit erhält die künstlerische Aussage wesentlichen Inhalt und Bedeutung, daß sie unabhängig ist und nicht vordergründig zu nützen bestrebt ist. Und erst dadurch wird sie notwendig und in einem indirekten aber tiefen Sinne nützlich.
Das mit Jahren und Krisen eines Künstlerlebens vertiefte Erlebnis, seine wesentlichen Lebensantriebe und Lebenserfolge aus der künstlerischen Inspiration zu erhalten, macht zutiefst bescheiden und hochmütig zugleich: Bescheiden gegenüber jener unheimlichen - sagen wir ruhig göttlichen - Quelle, deren Anschwellen und Versiegen, so schicksalsträchtig und lebensbestimmend es für den Künstler ist, sich doch weitgehend seinem Willen entzieht. - Hochmütig hingegen gegenüber allen scheinbar so günstigen und vorteilhaften Gratifikationen durch gesellschaftliche oder überhaupt äußere Verhältnisse, die, sobald ihnen das Hauptgewicht der Sorge gilt, die fatalste Trennwand zu jeder Inspiration bilden.
Es scheint , daß sich die Vorkehrungen im Zusammenhang mit Inspiration überhaupt darauf beschränken müssen, die Quelle möglichst von Zuschüttung durch Interessen freizuhalten. Das Geistige scheint jede noch so versteckte Forcierung, jedes ungeduldige Drängen, mit trotziger Verweigerung zu beantworten. (Das Postulat der Interessensfreiheit bedeutet natürlich nicht, daß der Künstler keine gesellschaftliche oder politische Stellung beziehen darf. Es bezieht sich nur auf sein persönliches Motiv, warum er dies tut)
Von seiner störrischen, weder Schmeichelei noch Drohung gehorchenden Muse abhängig, lernt der Künstler selbst, eigensinnig und relativ unbeeinflußbar zu bleiben, und das ist es letztlich auch, was ihn für die Mächtigen so unbequem und unberechenbar macht und weshalb sie versuchen, ihn mit verschiedenen Vergünstigungen zu korrumpieren oder notfalls mit Druck oder Gewalt zum Schweigen zu bringen oder gefügig zu machen. Durch das in langer Praxis geübte und gewachsene relative Übergewicht seines Vertrauens auf innere Quellen ist er ein Paradefall des so genannten „ innengelenkten Menschen“. Er hat zur selbständigen Meinung, zum zivilen Ungehorsam, zum Widerstand gegen Verhältnisse und Mehrheiten nicht nur den moralischen Willen (den hat, zu Beginn einer Beeinflussung wenigstens, fast jeder), sondern auch die notwendige Übung erworben, den Spürsinn für die Fallen und Chancen, die Wendigkeit, ersteren zu entgehen und letztere zu nützen. Wer diese Unabhängigkeit und Zivilcourage nicht ständig geübt hat, der ist, mag er in Zeiten pluralistischer Toleranz diese Möglichkeit noch so entrüstet von sich weisen, im Ernstfall schnell erpreßt oder verführt. Nicht nur die rasche und durchgängige Anpassung, selbst der gebildeten Schichten, freilich auch vieler Künstler, an die totalitären Regime faschistischer und kommunistischer Prägung in diesem Jahrhundert illustrieren diesen Sachverhalt überdeutlich, auch mancher ideologische Schwenk jüngeren Datums in den westlichen Demokratien läßt ahnen, wie flach die Wurzeln mancher vollmundig verkündeter „Bekenntnisse“ sind und welch überragende politische Größe die Windrichtung ist. Die Einsicht in diese beschämende Tatsache erspart man sich gewöhnlich so lang als möglich, indem man sich, einmal gebrochen, auch noch die Ideologie des "Brotgebers" zu eigen macht. Man behauptet und glaubt es schließlich sogar, es gäbe gar keine Beeinflussung, unterwirft sich also nicht nur de facto, sondern mit Leib und Seele. Des Brot ich eß, des Lied ich sing.
Anders, freier, kann letztlich nur reagieren, wer, als Künstler beispielsweise, in Selbständigkeit und Widerstand geübt ist. Er ist im Idealfall nirgends zu fassen, durch kein Mittel der Verführung noch durch Erpressung. Er bildet selbst im scheinbar totalen Sieg von Macht und Ideologie ein gefährliches, sich dem Einfluß entziehendes Residuum, bleibt als potentieller Kristallisationskern des Widerstandes. Er reagiert auf Beeinflussung unberechenbar, oft mit dem geraden Gegenteil des Erwünschten, bildet, in nuce, in seiner Person, Modelle des Widerstandes aus.
Erscheint er vielen leicht als prinzipieller Neinsager und Nörgler, als Feind der Gesellschaft oder jedweder Politik, so erweist sich seine unabhängige Position auf längere Sicht als Segen. Als gesund gebliebener Rest und Keimzelle der Regeneration, sobald die politischen, wirtschaftlichen und geistigen Verirrungen und Einseitigkeiten jeder Zeit in ihrem zwangsläufigen und oft katastrophalen Scheitern die Menge in Ratlosigkeit und Verzweiflung zurücklassen.
Unabhängigkeit gibt es natürlich nicht nur für den Künstler, sondern jeden wirklich schöpferisch Tätigen, sei es in Wissenschaft, Politik, Religion, sozialem Engagement, Kindererziehung u.s.f.  - Ja, jeder Mensch hat prinzipiell Anteil an ähnlichen Fähigkeiten und Erfahrungen. Nur dadurch ist andererseits Kunst überhaupt wirksam, wenn auch oft mit Verzögerung. Und ohne diesen allgemeinen Fundus an schöpferischem Geist wäre auch der Beruf des Künstlers unmöglich oder wenigstens absurd. Der Dissident, der der Künstler im Idealfall ist, und der Machtpolitiker, beide leben von der Menge: Der Letztere, indem er auf ihre erpreßbare Ängstlichkeit und ihre Verführbarkeit durch materielle Hoffnungen setzt, der Erste , indem er ihr Selbstvertrauen anspricht, ihren Glauben an die Priorität und die letztendliche Chance der altmodischen und doch nicht totzukriegenden Werte: Der Wahrheit, der Güte und Gerechtigkeit und der Schönheit.
©Wolfgang Glechner, Wien, 1993, erstmals abgedruckt im Jahr 2000 in: Wienzeile, Zeitschrift für Literatur

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